Andere Umstände
E-Book
4,99 €
ca. 400 Seiten
Es ist das erste Mal, dass ich nach San Francisco fliege.
Mila Rosin bereut nichts. Weder dass sie ihren Englischlehrer erstochen hat noch den Mord an ihrem Psychologiedozenten. Mila rächt sich an den Männern, weil sie ihr den größten Herzenswunsch nicht erfüllen. Gnadenlos verfolgt sie ihre Ziele und treibt ihre Mitmenschen dabei fast professionell ins Unglück. Und das alles vor dem Hintergrund einer extrem emotionsgeladenen Zeit. Ein perfider Cocktail aus Unschuld und Blutrausch. (Verlagstext)
Anna ging noch einmal nach Tim schauen, dann nahmen wir Leopold zwischen uns, als wäre er betrunken. Wir setzten ihn auf den Beifahrersitz und schnallten ihn fest. Ich warf Anna die Schlüssel zu, die ich Leopold im Bad abgenommen hatte, und stieg hinten ein.
„Wohin?“ fragte sie gleichmütig wie ein Taxifahrer.
Ich sagte es ihr und beobachtete sie dabei. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung.
„Können wir …?“ fragte ich.
Sie legte ihre Hände aufs Lenkrad und zog sie wieder zurück.
„Ich muss noch mal rein“, sagte sie.
„Warum?“
„Ich muss noch mal rein“, wiederholte sie. „Komm gleich wieder.“
Sie verschwand hinter der Haustür, und ich starrte in die Nacht. Es war kurz nach halb zwei und kein Mensch auf der Straße. Ich war allein mit einer Leiche namens Leopold. Ein seltsamer Geruch nach Gummi stieg mir in die Nase. Rochen Tote so? Oder war das der Mief des neuen Autos?
Anna kam wieder.
„Alles klar?“
Sie nickte. „Ich hatte Durchfall und habe in die Wanne gekotzt. Beides gleichzeitig“, teilte sie sachlich mit.
Ich lächelte ihr zu und dachte, dass sie jetzt leicht sein musste wie ein Engel. Während der Fahrt sagte jede von uns nur einen Satz.
„Es tut mir leid“, sagte ich.
„Du kannst nichts dafür“, sagte sie.
Sie fuhr nicht zu schnell und nicht zu langsam. Leopolds Kopf schwenkte in den Kurven hin und her. Sein Haar war noch nass. Seine Haut hatte jede Farbe verloren, aber sein Haar glänzte. Ich zog einen Handschuh aus und berührte ihn vorsichtig. Ich strich ihm durch die nassen Strähnen und wunderte mich. Warum musste ausgerechnet ich ausgerechnet ihn töten?
(…) Sein Haar war seidig weich; es fühlte sich lebendig an, es fühlte sich an, als hätte es irgendwie überlebt.
Wir zogen unsere Schuhe aus und liefen auf Strümpfen über die kurzgeschorene Wiese. Leopold hing wie ein Betonklotz zwischen uns.
Ich krabbelte durch das Loch im Zaun und zog den Toten an den Beinen. Anna schob ihn.
In dem Becken plätscherte leise das Wasser. Anna fasste unter seine Achseln, ich packte ihn an den Füßen.
„Eins, zwei, drei und hopp“, sagte ich. Bei Hopp warfen wir ihn hinein.
Das Wasser platschte in alle Richtungen, und wir wurden ein bisschen nass.
Wie beim Neptunfest, dachte ich.
Anna fuhr den Wagen in ein nahegelegenes Wäldchen.
„Müssen wir das Auto jetzt anzünden?“ fragte sie müde.
„Das müssen wir wohl …“
„Sechzehn Jahre …“, sagte Anna.
„Was?“
„Er hat sechzehn Jahre auf den Wagen gewartet.“
Mir kam eine andere Idee. Wir montierten die Nummernschilder ab und schoben sie unter den Müll, der hier lagerte. (…) Anna fuhr mit einem Handfeger hektisch über die Autositze. „Gibt es da keine Wachen?“ fragte sie skeptisch.
„In dem zivilen Bereich seit ein paar Wochen nicht mehr“, antwortete ich.
Leider war ich nicht so sicher, wie ich tat. Was wusste ich schon von den Russen?
Wir stiegen in den Wartburg. Ich saß wieder hinten. Anna hatte zwar den Beifahrersitz notdürftig gesäubert, aber er war noch feucht. Jedenfalls bildete ich mir das ein.
Die Tore standen tatsächlich weit auf. „Perestroika“ hieß das Sesam-öffne-dich. Von den roten Sternen, die man an den silbergrauen Türen angebracht hatte, blätterte die Farbe.
„Cheese“, flüstere ich, und der fremde Mann lächelt und winkt uns auf die Rückbank seines Wagens.
„Sanfter Schrecken und Satire in einem – so kauzig komisch wurde selten in die empfindsame Ost-Seele geblickt.“ Der Spiegel
„Mit Witz und schwarzem Humor sorgt die Potsdamer Autorin Grit Poppe in ihrem ersten Roman für eine literarische Sommer-Überraschung.“ Der Stern, Gerda-Marie Schönfeld
„Keineswegs zimperlich“ Brigitte
„Gut gelaunt und rabenschwarz.“ Märkische Allgemeine, Karim Saab
„Dieses Buch war für mich DIE Überraschung des Herbstes, wenn nicht DIE Überraschung auf dem deutschen Büchermarkt überhaupt. Es ist spannend und intelligent, es ist komisch, trocken, frech und schnell … Grit Poppe ist ein ganz neuer Ton in der jungen deutschen Literatur gelungen.“ Radio Bremen, Renée Zucker
„Grit Poppe hat einen in mehrerlei Hinsicht unkonventionellen Frauenroman geschrieben: eine explosiv zu nennende Mischung aus nüchternem Realismus und träumerischem Aufbegehren, die ebenso ungezügelt in ihrer Phantasie wie diszipliniert im Umgang mit der Sprache ist.“ Neue Zürcher Zeitung, Hans Christian Kosler