(aus den Unterrichtsmaterialien zu „Weggesperrt“ von Sabine Wittmann)
Das hat verschiedene Gründe. Als Mutter von zwei Kindern im Teenager-Alter weiß ich, dass die meisten Jugendlichen heute wirklich sehr wenig über die DDR wissen. Damit meine ich nicht nur das reine Fakten-Wissen, sondern es fehlt auch der emotionale Zugang zum Thema. Außerdem ist vielen der Unterschied zwischen dem Leben in einer Demokratie und in einer Diktatur nicht klar. Über diesen Mangel ist ja schon viel geredet worden, aber ich finde, es ist an der Zeit auch was dagegen zu unternehmen. Ich habe dann nach einer wirklich spannenden Geschichte gesucht, nach einem Stoff, der Jugendliche von heute berührt und fesselt. Da ich die Überwachung durch die Staatssicherheit in meiner Kindheit und Jugend selbst erlebt habe, sollte das der Ausgangspunkt sein.
Also um es mal konkreter zu beschreiben: Wenn ich mit meinem Vater in Berlin unterwegs war, hatten wir nicht selten die Herren von „Horch und Guck“ im Schlepptau, die uns auf Schritt und Tritt folgten. Oft gab es auch Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verhöre – und das alles für Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben. Natürlich war das eine prägende Erfahrung, von der ich meinen Kindern und anderen jungen Menschen erzählen wollte. Dass die 14jährige Anja in der Geschichte dann nach der Verhaftung ihrer Mutter in die Fänge der Jugendhilfe gerät und in einen Jugendwerkhof gesteckt wird, hat sich durch die Recherche ergeben. Ich muss gestehen, dass ich – wie wohl die meisten Menschen, die in der DDR gelebt haben – nichts über den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau wusste. Was dort geschah, war ein absolutes Tabu und wurde verschwiegen. Als ich das Thema dann entdeckte, hat es quasi Besitz von mir ergriffen. Nach drei schlaflosen Nächten wusste ich, dass ich darüber schreiben musste. Ich konnte gar nicht mehr anders. Was die Jugendlichen dort erlebt und erlitten hatten, war einfach zu schlimm, zu gravierend. Anjas Geschichte musste unbedingt erzählt werden – stellvertretend für die vielen Geschichten, die tatsächlich passiert sind.
Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Allerdings habe ich sehr viele Episoden einfließen lassen, die mir von Zeitzeugen, hauptsächlich von ehemaligen Insassen des GJWH Torgau, erzählt worden sind. Gerade auf die Details habe ich dabei großen Wert gelegt. Also z. B.: Wie sah so eine Arrestzelle aus, wie roch es da drin, wie wurde die Tür verriegelt und und und… Natürlich auch: Wie fühlt man sich, wenn man so weggesperrt, wenn man so behandelt wird. Es war mir wichtig über dieses Thema möglichst authentisch zu schreiben. Man könnte vielleicht sagen: Der Rahmen ist frei erfunden, aber die einzelnen Geschehnisse haben sich so oder ähnlich tatsächlich zugetragen.
Im ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gibt es heute eine Erinnerungs- und Begegnungsstätte – für Betroffene, aber auch für Interessierte. Ich bin also nach Torgau gefahren, habe mir die Ausstellung angesehen, die Akten ehemaliger Insassen gelesen und mit den Mitarbeiterinnen dort gesprochen, die mich von Anfang an sehr unterstützt haben. So bekam ich recht schnell Kontakt zu Zeitzeugen; natürlich habe ich auch Sachbücher durchgearbeitet und Filme gesehen, aber die Gespräche mit denen, die als Jugendliche in Torgau hinter Gittern „erzogen“ werden sollten, waren entscheidend für mich und das Buch.
Im Laufe der Recherche habe ich so einige wunderbare Menschen kennengelernt, die sehr offen von ihren schlimmen Erlebnissen erzählten. Diese Begegnungen haben mich tief berührt. Natürlich waren das keine leichten Gespräche – viele der Opfer sind traumatisiert und es geht ihnen auch heute nicht gut. Dass die Vergangenheit noch sehr lebendig ist, habe ich immer wieder deutlich gespürt. Da sind noch soviel Trauer, Wut und Schmerz, aber auch eine ungeheure Energie und der Wunsch anderen mitzuteilen, was passiert ist. So engagieren sich z. B. Stefan Lauter und Kerstin Kuzia, die mich beide sehr unterstützt haben, heute im Opferbeirat der EBS Torgau und arbeiten ihre Geschichten quasi öffentlich auf, indem sie vor Schulklassen, Lehrergruppen und anderen Interessierten von ihren Erfahrungen berichten.
Bewegend waren für mich eigentlich jedes einzelne der vielen Gespräche mit den Zeitzeugen, die Besuche in Torgau, die Besichtigung der Dunkelzellen, aber auch zu sehen, wie interessiert und teilweise schockiert Jugendliche auf das, was sie über die Schicksale erfuhren, reagierten.
Nun, ich würde den Politikern, die das fordern, empfehlen mal nach Torgau zu fahren und sich zu erkundigen, was in so einer geschlossenen Einrichtung gelaufen ist und was man in der Psyche eines Menschen mit dieser schwarzen Pädagogik alles kaputtmachen kann.
Wegsperren kann keine Lösung sein. Auch die heutigen Bootcamps und Boxcamps sind menschenunwürdig. Es sind Umerziehungslager, in denen Jugendliche durch Drill, Kollektivstrafen und Strafsport in ihrer Persönlichkeit gebrochen werden. Kann sich eine Demokratie so etwas „leisten“? Ich denke nicht.
Kinder und Jugendliche brauchen in erster Linie Zuwendung. Gewalt entsteht ja nicht im luftleeren Raum. „Schwierige“ Heranwachsende müssen von erfahrenen Erwachsenen verständnisvoll begleitet werden; gerade auch dann, wenn die Eltern das nicht leisten können, weil sie vielleicht überfordert sind. Sei es durch Streetworker, Psychologen, Lehrer oder auch einfach Menschen, die sich die Zeit nehmen mal genauer hinzusehen, nachzufragen und in problematischen Situationen zu helfen. Eine verstärkte Ursachenforschung und eine intensivere Prävention sind hier nötig. Aber auch mehr Anlaufpunkte und Entfaltungsmöglichkeiten für junge Menschen, die ja erst dabei sind, ihre Talente und Fähigkeiten zu entdecken. Man darf nicht erst handeln, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Geschlossene Heime sind überflüssig. Für Straftäter gibt es Gesetze und Gerichte.
Die Friedliche Revolution 1989 war für mich eine sehr spannende, schöne Zeit. Ich habe die damaligen Ereignisse als eine Art Befreiung erlebt. Endlich bewegte sich was und veränderte sich das System, aber auch die Menschen waren in dieser Situation plötzlich viel lebendiger als vorher. Zum damaligen Zeitpunkt war mir dieser innere Wandel, dieser fröhlich-zornige Aufbruch zu neuen Ufern wichtiger als die Öffnung der Mauer.
Die Wiedervereinigung kam ja dann doch etwas holterdiepolter. Die Wunschvorstellung der Bürgerbewegungen war ja damals, dass die beiden deutschen Staaten sich aufeinander zu reformieren. Im Nachhinein klingt das leider utopisch.
Natürlich bin ich froh darüber heute in einer Demokratie zu leben, in der Menschenrechte etwas wert sind, in der Meinungs-, Reise- und Pressefreiheit herrschen.
Trotz aller Probleme, die es auch heute gibt, weiß ich es zu schätzen, dass ich reisen kann, wohin ich will, falls ich denn das Geld dafür habe, dass ich nicht nach Orangen anstehen muss, die Bücher lese, die ich lesen möchte, meine Meinung sagen darf, auch wenn ich damit anecke, ja, und natürlich, dass ich einen Roman wie „Weggesperrt“ schreiben kann, ohne dafür weggesperrt zu werden.
Wenn es denn eine Botschaft gibt, traue ich den Jugendlichen zu, dass sie diese selbst herausfinden.
Vielen Dank.
Die Fragen stellte: Sabine Wittmann im April 2009